HEIMATSTÜCKE
Martin Schulte – Guitar
Simon Seidl – Piano
Matthias Nowak – Bass
Ralf Gessler – Drums
Heiner Schmitz – Sax & Komp.
Album Release on September, 29th 2023 on JAZZSICK Records!
©Photos by Frank Wiesen
Ein Saxofon, das versonnen in die Vergangenheit zurückblickt. Sonst nichts. Zumindest für den Augenblick. Dann ein Klavier, das wir eine Fahrspur die Richtung vorgibt, bevor die ganze Band einsteigt und diese Reise zu einem kollektiven Ausflug zum Horizont des imaginierten Anfangs macht. „Blaue Datsche“ ist der Opener zu einem Album, das mit dem Titel „Heimatstücke“ sagt, worum es geht. Der Kölner Saxofonist und Komponist Heiner Schmitz hat sich in jüngerer Zeit eher mit komplexeren Alben einen Namen gemacht. Auf „Heimatstücke“ versucht er mit ganz einfachen Mitteln, in einem Ozean der Orientierungslosigkeit Terrain zu gewinnen und kraft der Erinnerung zu sich selbst und seinen Ursprüngen zu finden. Das Album besteht aus elf wunderbar angstbefreiten Rückgriffen auf die eigene Kindheit und Jugend sowie Vorgriffen auf die nähere Zukunft.
Mit einer faszinierend beiläufigen Verbindlichkeit, lässt Schmitz die Songs einfach so passieren, als wären sie ganz von selbst entstanden. Seine Heimatstücke sind direkt unmittelbar seinem Innenleben abgelauscht. Sie klingen wie Jazz, funktionieren wie Lieder und sind letztlich nur sie selbst. „Ja, die Stücke sind mir einfach passiert“, bestätigt er. „Ich habe sie mit keinerlei Absicht geschrieben. Einige waren schon da, andere sind dazugekommen, und ich dachte mir, ich könne sie unter dem Titel ‚Heimatstücke’ zusammenfassen.“
Ein Album in der heutigen Zeit „Heimatstücke“ zu nennen, beweist Mut. Es geht dabei aber nicht um die heimatliche Scholle und auch sonst keinen ideologisch, national oder auch nur topografisch definierten Heimatbegriff. Heiner Schmitz begibt viel mehr auf eine Suche nach der verlorenen Zeit, wie sie am besten von Marcel Proust beschrieben wurde. Natürlich mutet dieser Albumtitel provokant an, und gegen Falschauslegungen ist er natürlich nicht gefeit. Dabei ist dieses Motto ist das genaue Gegenteil einer Provokation. Er beschreibt viel mehr jene in uns allen wohnende Sehnsucht, die ebenso gedankenverlorene wie zeitvergessene Unbeschwertheit der Kindheit zu rekapitulieren und uns an diesen niemals wiederkehrenden Ort zurückzubegeben. Heimat! Auf Schmitz’ Album kommen Namen und Begegnungen vor, Erinnerungen und Einordnungen. Es gibt aber noch eine andere Art von Songs. Neben den Titeln über die Illusion kindlicher Glückseligkeit gibt es auch Tracks, in denen Sorge um die Zukunft zum Ausdruck kommt. Sie tragen Titel wie „Zeitenwende“ oder „Tatendurst“. Heiner Schmitz weiß, dass wir nicht in die Vergangenheit zurückkehren können. Letztlich zählt nur, was vor ihm liegt. Aber er träumt nicht nur von der Zukunft, sondern übernimmt Verantwortung. Von diesem Dualismus ist das Album geprägt.
„Heimatstücke“ ist ein extrem subjektives Album. Vieles, was man im Rückspiegel der Zeit als gut und positiv verortet, wurde in der Wirklichkeit des konkreten Moments ganz anders empfunden. Schmitz spielt ganz bewusst mit dieser Unschärfe der Erinnerung. Er setzt sich über die Chronologie des Biografischen hinweg und montiert den unübersichtlichen Sack des Erinnerten zu einer packenden Geschichte im Hier und Jetzt. „Als Kind konnte man befreit von kapitalistischen Zwängen und Leistungsdruck existieren“, hält er aus der Perspektive des 40-Jährigen fest. „Ich kann dankbar auf das zurückblicken, was war. Auch die langweiligen Ferien bei Oma fühlen sich für mich paradiesisch an. Heute versuchen wir unseren Kindern in den Ferien ein Super-Action-Programm zu bieten. Früher wurde man einfach für mehrere Wochen bei Oma abgeladen. Andererseits bringt es nichts, ständig nur zurückzublicken. Meine Philosophie bestand immer darin, die Vergangenheit mitzunehmen und mir Gedanken zu machen, wie ich es in der Zukunft besser machen kann. Was kommt als nächstes?“
Bei all diesen sehr grundsätzlichen Fragen und Gedanken, bewahren den Kölner und seine Kompagnons einen herrlichen Sinn für Leichtigkeit und Optimismus. Die Kompositionen kommen ohne jeden Anflug von Sentimentalität aus. Die Songs schweben regelrecht am Ohr vorüber wie die Außenwelt hinter dem Fenster auf einer Zugfahrt. Dabei wuchert Schmitz mit einer Eigenschaft, die seine Musik seit jeher auszeichnet. Die Wärme seiner Melodien und Arrangements ist äußerst wohltuend. Aus der Hörerperspektive fühlt man sich von seinen Songs unweigerlich verstanden, geborgen und umhüllt. Es sind Lieder, die man schon nach wenigen Momenten mitsingen zu können meint. Schmitz bekennt sich zu einfachen Formen. Während seine letzten beiden Alben „Sins & Blessings“ und „Tales From The Wooden Kingdom“ das Ohr eher mit Herausforderungen konfrontierten, sind die „Heimatstücke“ ein großes Entgegenkommen, ohne Kompromisse einzugehen. „Das sind alles Stücke, die ich einfach mal genau so schreiben musste“, meint er. „Bei meinen letzten Projekten habe ich immer versucht, mich selbst mit größeren Besetzungen zu erweitern. ‚Heimatstücke’ kann man hingegen ganz wunderbar im Auto laufen lassen.“
Am Sound des Albums haben natürlich die beteiligten Musiker einen entscheidenden Anteil. Nach zwei großformatigen Platten kehrt Heiner Schmitz zur handlichen Quintett-Formation zurück. Mit Drummer Ralf Gessler und Gitarrist Martin Schulte ist er seit Studientagen verbunden. An Gessler schätzt er seine Affinität zu groove-orientierter Musik. Schulte ist auf dem Album sehr prominent vertreten. Mit seinem sehr vokal anmutenden Gitarrenton fungiert er auf dem Album in bestimmten Momenten gewissermaßen als Sänger. Gitarre und Saxofon verbinden sich oft zu einer magischen Doppelhelix. Mit Pianist Simon Seidl hat Schmitz schon auf „Sins & Blessings“ zusammengearbeitet. Er hat zwar kein klares Feature auf dem Album, grundiert aber kontinuierlich den Gesamtsound der Band. Fünfter im Bunde ist Bassist Matthias Nowak, der Schmitz’ Kompositionen Wucht und Tiefe verleiht.
„Heimatstücke“ ist ein Soundtrack auf den Film des Lebens. Es ist eine Sammlung von Klangerzählungen aus der ganz persönlichen, unverblümt vorgetragenen Lebensgeschichte von Heiner Schmitz, der tief in sich gegangen ist, alle Scheuklappen abgeworfen hat, sich einen Teufel um die Erwartungen der Fachwelt schert und rauslässt, was so oder so raus muss. Aber gerade aus diesem Grund lässt sich dieser Soundtrack auf einzigartige Weise mit den Erfahrungen und Erinnerungen der Hörerinnen und Hörer synchronisieren. „Heimatstücke“ ist die ebenso verführerische wie ehrliche Quersumme aller gelebten und imaginierten Leben.
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